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I Materialistische Entfaltung der Widersprüche des Begriffs Krankheit

Wenn wir ein Problem lösen wollen, so kommt es darauf an, daß wir dieses Problem richtig erkennen. Es genügt dabei nicht, daß wir diesen oder jenen Teilaspekt angeben können, sondern es kommt darauf an, daß wir alle das Problem bestimmenden Momente und ihr Zusammenwirken begreifen. Nur so ist es möglich, daß Problemerkenntnis und Problemlösung eine unzertrennliche Einheit bilden. Wenn wir begreifen wollen, warum ein Stein auf die Erde fällt, können wir uns nicht damit begnügen festzustellen, daß auch andere Körper auf die Erde fallen, sondern wir müssen das Wesen der Erscheinung (des Fallens), nämlich die Gravitation als allgemeines Gesetz der Materie unter der Bestimmung Masse begreifen.

Genauso bei Krankheit. Hier war uns von vornherein klar, daß es völlig unzureichend ist nach dem Vorbild der naturwissenschaftlichen Medizin nach eindeutigen körperlichen Ursachen zu suchen; es wurde uns aber auch sehr schnell bewußt, daß es unzureichend ist, einfach von der gesellschaftlichen Verursachung von Krankheit zu sprechen; daß es vereinfachend ist, dem "bösen Kapitalismus" die "Schuld" für Krankheit und Leiden zuzuschieben; und es wurde uns klar, daß es eine völlig abstrakte und wirkungslose Versicherung ist, wenn man einfach sagt, die Gesellschaft sei krank.

Empirisch sind wir lediglich von drei Tatsachen ausgegangen:

1) Es gibt die kapitalistische Gesellschaft, es gibt Lohnarbeit und Kapital.

2) Es gibt Krankheit und unbefriedigte Bedürfnisse, d.h. die reale Not und das Leiden der Einzelnen.

3) Es gibt die Kategorie der Geschichtlichkeit, die Kategorie der Produktion, oder – noch allgemeiner gesagt – es gibt die Kategorie der Zeit, der Veränderung und des Werdens.

Auf eine einfache Formel gebracht, war das SPK die größte in den Jahren 1970/71 mögliche Konkretisierung der Widersprüche des Begriffs Krankheit bei dessen höchst möglicher Verallgemeinerung. Es gilt in der Dialektik ganz allgemein, daß man sich auf eine hohe Stufe theoretischer Verallgemeinerung begeben muß, um konkrete Probleme lösen zu können, wobei die theoretische Verallgemeinerung gleichzeitig Voraussetzung und Resultat der praktischen Arbeit ist. Es ging uns also von vornherein um das Begreifen der Symptome als Erscheinungen des Wesens Krankheit*.

* Wenn in dieser Agitationsschrift die Wörter "Dialektik" und "dialektisch" so häufig gebraucht werden, so hat das eine agitatorische Funktion: Sie sollen als Aufruf verstanden werden, durch intensives und praxisbezogenes, wechselseitig sich ergänzendes Studium der Hegelschen Dialektik und der politischen Ökonomie die Verhältnisse zu produzieren, unter denen ihre durchgängige Anwendung für die menschlichen Bedürfnisse erst Wirklichkeit werden kann: Das Reich der Dialektik ist die permanente Revolution! Gleichzeitig hat die Betonung der Dialektik und die Denunziation der vom Bazillus des Positivismus infizierten herrschenden Wissenschaft die Funktion der radikalen Kritik dieser Wissenschaft und soll sich als Keim von deren Überwindung und Aufhebung (= Sozialisierung) entfalten.

Wenn wir immer wieder auf die Frage nach der Notwendigkeit des Hegelstudiums angesprochen werden, so müssen wir darauf aufmerksam machen, daß jedes Verständnis von Marx oberflächlich bleibt, sofern man nicht die von Marx angewandte, von Hegel entwickelte Methode der Dialektik verstanden hat. Letztere anhand der Hegelschen Philosophie sich zu erarbeiten, ist viel einfacher als sie aus den Marx’schen Schriften selbst heraus zu präparieren. Die Klassiker des Marxismus haben darauf selbst immer wieder hingewiesen. So schreibt Lukács in "Der junge Hegel" über Engels: "und indem er (Engels) in seinen letzten Jahren die jungen Marxisten zum Studium Hegels anleiten wollte, hat er immer davor gewarnt, sich bei den Willkürlichkeiten der Hegelschen Konstruktionen zu lange kritisch aufzuhalten, sondern darauf zu sehen, wo und wie Hegel wirkliche dialektische Bewegungen richtig entwickelt. Das erstere wäre eine leichte Arbeit, … das letztere eine wichtige Erkenntnis für jeden Marxisten." Es kann also keinesfalls sein Bewenden dabei haben, Hegel einfach als Idealisten beiseite zu schieben, wie es in zahlreichen linken Gruppen üblich ist. Die fruchtbarste Methode ist die, nach dem Vorbild der Klassiker des Marxismus, Marx durch die Brille Hegels und Hegel durch die Brille des Marxismus zu lesen. Marx selbst schreibt in "Die Heilige Familie": "Dann aber gibt Hegel sehr oft innerhalb der spekulativen Darstellung eine wirkliche, die Sache selbst ergreifende Darstellung. Diese wirkliche Entwicklung innerhalb der spekulativen Entwicklung verleitet den Leser dazu, die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwicklung für spekulativ zu halten." Intensives, praxisbezogenes Studium der Hegelschen Dialektik, speziell anhand der "Phänomenologie des Geistes", wurde in den wissenschaftlichen Arbeitskreisen des SPK etwa so betrieben: Nach der gemeinsamen Lektüre eines Abschnitts dieses Buches (irgendein Patient las laut vor, die anderen lasen mit) wurde gemeinsam versucht, einen Bezug zwischen dem Inhalt dieses Abschnitts und der aktuellen Bedürfnislage des Kollektivs, ebenso wie der irgendeines bestimmten Patienten herzustellen: zum Beispiel mit akuten Problemen am Arbeitsplatz oder der aktuellen familiären Situation. Diese Praxis ergab sich schon allein aus der für die meisten Arbeitskreisteilnehmer ungewohnten Beschäftigung mit wissenschaftlichen Texten überhaupt und aus dem gesellschaftlich bedingten "Bildungsgefälle" zwischen Studenten einerseits und Arbeitern auf der anderen Seite. Dabei hat sich erwiesen, daß nach der Überwindung anfänglich auftretender Artikulationshemmungen gerade diejenigen, die nach dem herkömmlichen Einteilungsschema am unteren Ende des "Bildungsgefälles" sich befanden, die fruchtbarsten und am meisten weitertreibenden Beiträge leisteten, während viele Studenten zunächst oft in akademischen Interpretationsversuchen und dem Zwang zur Präsentierung angelernten "Wissens" steckenblieben. Gerade diese konsum- bzw. autoritätsorientierten Fixierungen konnten in den praxisbezogenen wissenschaftlichen Arbeitskreisen im Zusammenhang mit den Einzel- und Gruppenagitationen bearbeitet und aufgehoben werden. Dies um so mehr, als besonders die "Phänomenologie des Geistes" dafür in allen Abschnitten überreiches Material bietet (Herrschaft und Knechtschaft!).

Ursprünglich sollten nur die Inhalte dem Kollektiv zur Diskussion gestellt werden, von denen einer annahm, sie seien völlig unverständlich. Diese Forderung ergab sich aus der konkreten Bedürfnislage, die mehrfach in den Einzelagitationen zum Ausdruck gekommen war: Wir haben eine Menge Marx etc. gelesen, können aber mit der Dialektik nichts anfangen, verstehen folglich auch den Marx nur halbwegs. – Dann lest halt auch Hegel. – Du liebe Zeit, der ist ja idealistisch und überhaupt nicht zu kapieren – viel schlimmer: Der Schopenhauer, dem nur die Positivsten imponieren konnten, war ernsthaft davon überzeugt, daß jeder, der über einen halbwegs gesunden Menschenverstand verfügt, durch das intensive Studium der Hegelschen Philosophie hoffnungslos verblöde. – Na, da kann ja dann wohl uns nichts passieren. – Ja, auf Marx, Lenin und Mao scheint Dialektik nicht im Sinne einer Gesundheitsschädigung gewirkt zu haben … Zum anderen hatten wir allen Grund, auf die schöpferische Kraft des Negativen zu setzen. Worauf auch sonst?

Drittens wäre uns schlimmstenfalls immer noch die Möglichkeit geblieben, unser individuelles Scheitern anhand des Textes als etwas kollektiv Verständliches zu erfahren und dadurch die Schranke zwischen kollektiver und individueller Produktivität zu durchbrechen.

Was ist dieses Wesen? Nach Marx ist die Geschichte der Menschheit die Geschichte ihrer Entfremdung und die Aufhebung dieser Entfremdung. Krankheit ist weder Teil noch auch bloße Form der Entfremdung, sondern sie ist die Entfremdung, aber als subjektive, als erlebte körperliche und seelische Bedürftigkeit der Einzelnen.

Krankheit ist von uns bestimmt worden als in sich gebrochenes, als sich selbst widersprechendes Leben. Diese Bestimmung von Krankheit ist das Resultat historischer Untersuchungen, wie sie in den Arbeitskreisen des SPK anhand des dialektischen Materialismus geleistet worden sind.

In den Urgesellschaften sehen sich die Menschen der Gewalt der Natur, die sie als übermächtige und blinde Macht erleben, gegenüber. Um gegen diese Mächte bestehen zu können, müssen sie sich im Sozialverband organisieren, d.h. aber, daß sich die Gewalt der Natur im Innern des Sozialverbandes als gesellschaftliche Macht fortsetzt. Die Anthropologie bestimmt schon seit Herder den Menschen als Mängelwesen; die moderne Anthropologie erklärt den Beginn der Menschheitsgeschichte mit dem Wegfall der den Tieren spezifischen Instinktsicherheit. Dieser Wegfall der Instinktsicherheit bestimmt somit den Menschen als das Andere der Natur. Damit menschliche Geschichte überhaupt sei, muß das Leben als rein natürliches, biologisches gebrochen werden.

Marx hat in "Nationalökonomie und Philosophie" in großer Eindringlichkeit das Ziel der Geschichte dargestellt: "Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahrhafte Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung."*

*K. Marx, "ökonomisch-philosophische Manuskripte", MEW – EB 1, S. 536

Durch die Entwicklung der Produktivkräfte und die fortschreitende Beherrschung der Natur sind zwar alle Mittel errungen worden, die es erlauben würden, den Menschen ein Leben ohne Not und Unterdrückung zu gewährleisten, aber die gewaltsam aufrechterhaltenen anarchischen kapitalistischen Produktionsverhältnisse verhindern die progressive Entwicklung der Mittel, die in der hohen Entwicklung der Produktivkräfte zur Befreiung des Menschen von den Zwängen der Natur und der Gesellschaft bereitstehen.

Der Einzelne sieht sich in den kapitalistischen Gesellschaften gesellschaftlichen Gewalten gegenüber, die ihm als ebenso blind und naturwüchsig erscheinen wie die unmittelbaren Naturgewalten. Deshalb sprechen wir in dieser Schrift von der Naturgewalt des Kapitals.

Mit fortschreitender Entwicklung der Produktivkräfte bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sieht sich die kapitalistische Gesellschaft zunehmend gezwungen, nicht-reproduktive Werte zu schaffen, deren Erzeugung nicht zur Reproduktion, sondern zur Destruktion des gesellschaftlichen Lebens bestimmt sind.* (Waffenarsenale einerseits und eingebauter Verschleiß in die "Gebrauchs"-Güter andererseits.) Ein einfaches Beispiel mag dies veranschaulichen. Eine der mächtigsten Industrien ist bekanntlich die Autoindustrie. Um ihre Profite nicht zu gefährden, muß für einen reibungslosen Absatz gesorgt werden. Damit die Nachfrage nicht ins Stocken kommt, muß ein Teil der technischen Intelligenz damit beschäftigt werden, die Produkte möglichst verschleißbar zu produzieren (dergleichen wird dann oft Grundlagenforschung genannt). Der Staat als Vertreter der Interessen des Gesamtkapitals (eine Absatzkrise in der Autoindustrie würde automatisch auch die Stahl-, Elektro- und Gummiindustrie in eine Krise stürzen) ist gezwungen, Straßen zu bauen. Das hat zur Folge, daß die Städte durch Verkehrsadern aufgesprengt werden, daß öde Trabantenstädte entstehen, das hat weiter zur Folge, daß keine finanziellen Mittel für die dringenden kommunalen Belange (Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten etc.) zur Verfügung stehen. Die daraus resultierende Verödung des gesellschaftlichen Lebens hat zur Folge, daß die Ballungsräume alsbald zum Investitionsfeld weiterer Industrien werden. Die Vergnügungsindustrie füllt diese Öde mit Spielautomaten, Musikboxen, Nachtbars etc. und produziert dadurch mit: Prostitution, Gewaltkriminalität, Rockerbanden und alle jene Erscheinungsformen von "Dissozialität", welche die Systemapologeten nicht etwa als Folgen der kapitalistischen Produktionsweise, sondern der Industrialisierung ausgeben.

*Eine prägnante Darstellung dieses Sachverhalts findet sich bei Alfred Sohn-Rethel in "Geistige und körperliche Arbeit" im Kapitel "reproduktive und nicht-reproduktive Werte", Frankfurt 1971, S. 144

So ist der Einzelne in der kapitalistischen Gesellschaft das Objekt einer doppelten Ausbeutung, sowohl im Produktions- als auch im Konsumbereich. Er ähnelt jenem Mann der griechischen Fabel, dem die Götter den Wunsch erfüllten, daß sich alles, was er berührt, in Gold verwandelte, und der folglich verhungert und verdurstet ist. Nicht bloß die Tätigkeit am Arbeitsplatz, sondern auch die Betätigung in der "Frei"-Zeit, der Schlag mit dem Tennisschläger, die Fahrt mit dem Auto, das Einwerfen des Groschens in die Musikbox wird in Gold für das Kapital verwandelt.

Bedürfnisse: Wir sind davon ausgegangen, daß alle Bedürfnisse durch das Kapital produzierte Bedürfnisse sind. D.h. alle Bedürfnisse sind Erscheinungen des Grundbedürfnisses des Kapitals nach Mehrwert. "Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand."* Das Kapital ist Subjekt der Geschichte, nicht etwa die Menschen Herren der Produktivkräfte. Aber dem Bedürfnis des Kapitals nach Mehrwert widerspricht das Bedürfnis der Einzelnen nach Leben; die unmittelbare sinnlich wahrnehmbare Einheit dieses Widerspruchs ist das Symptom.

* K. Marx, "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie", (EVA) S. 14

Das Symptom ist die einfache Einheit des Widerspruchs Leben – Tod. Und die kapitalistische Produktionsweise ist immer auf die Vernichtung der Arbeitskräfte gerichtet. Der Begriff dieses Widerspruchs sind die als Schizophrenien und Psychosen klassifizierten Symptombilder. Die Entfaltung der Widersprüche dieses Begriffs ist der durch das SPK organisierte und realisierte Widerstand.

Es muß ganz klar gesehen werden, daß, was als Schizophrenie und Psychose bezeichnet wird, das einfache Resultat ist, in welchem der Widerspruch zwischen Gewalt und Leben auf die Spitze getrieben, aber in ruhiger Einheit ist; jede authentische menschliche Regung wird mit Gewaltpotentialen beantwortet. Diese ruhige Einheit des Widerspruchs Gewalt – Leben, welche sich in "Friedenszeiten" im einzelnen "Schizophrenen" (und in jeder Krankheit) manifestiert – und die bürgerliche Gesellschaft weiß, warum sie diesen Widerspruch durch Anstaltsmauern, Zwangsjacken, Psychopharmaka und Elektroschocks an der Entfaltung hindert – nimmt im Ausnahmezustand die Form des Vernichtungslagers an. Das Vernichtungslager ist – vermittelt über die Institutionen Fürsorgeheime, Gefängnisse und psychiatrische Anstalten – die höchste Realisation des Begriffs der bürgerlichen Familie (Blumen in den Innenhöfen der Gefängnisse und psychiatrischen Anstalten, und Geranien vor den Fenstern der Baracken von Auschwitz; und welcher Gefängnisdirektor und Psychiatrieprofessor weiß bei "festlichen" Gelegenheiten nicht zu vermelden: "Wir sind eine große Familie!" und wurden an Weihnachten nicht auch fromme Lieder über die Lautsprecheranlagen der Vernichtungslager gespielt?).

"Andererseits berichtet Bruno Bettelheim in "Aufstand gegen die Massen" von einem Mädchen, das in einem Augenblick höchster Einsicht eine der entsetzlichsten Entfremdungssituationen der ganzen Menschheitsgeschichte erkannte und aus ihr ausbrach. Dieses Mädchen gehörte zu einer Gruppe von Juden, die nackt vor der Gaskammer Schlange standen. Der SS-Offizier, der die Vorgänge überwachte, hörte, sie sei Tänzerin gewesen und befahl ihr zu tanzen. Sie tanzte, und dabei näherte sie sich ihm allmählich. Plötzlich entriß sie ihm seinen Revolver und erschoß ihn. Ihr Schicksal war klar, und ebenso klar war es, daß sie nichts tun konnte, um etwas an der tatsächlichen Situation zu ändern, nämlich der Vernichtung der Gruppe. Aber sie setzte in einem ganz persönlichen Sinn ihr Leben ein, worin gleichzeitig eine historische Möglichkeit ihren Ausdruck fand, die im Prozeß der Massenvernichtung in den Lagern auf tragische Weise verlorenging."*

* David Cooper, "Psychiatrie und Anti-Psychiatrie", Frankfurt 1971, S. 55

Wer sich also ernsthaft mit den Symptomen beschäftigt, hat es mit der Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft ebenso wie mit der Organisierung von Gegengewalt zu tun. Die gesellschaftlichen Verhältnisse übersetzen sich insgesamt in die Materiatur des Körpers und der Körpervorstellung = Psyche; der Einzelne produziert seinen Körper und seine Psyche im kapitalistisch organisierten Produktionsprozeß.*

*Wenn ein Arbeiter heute zum Arzt kommt und über allerhand Symptome (sagen wir einmal Schwindelgefühle, Kopfschmerzen, Übelkeit etc.) klagt, so tut der Arzt alles, um diese Symptome zu enthistorisieren und entbiographisieren. Er mißt Blutdruck und Herzschlag und diagnostiziert am Ende eine "vegetative Dystonie" (Störung des vegetativen Nervensystems); von den Verhältnissen am Arbeitsplatz und in der Familie ist allenfalls am Rande die Rede. Behandlung als Tauschgeschäft: Die Symptome müssen so zurechtdiagnostiziert werden, daß sie als Nachfrage einem Angebot der medico-technischen pharmazeutischen Industrie entsprechen.

Das Symptom ist die Erscheinung des Wesens Krankheit als Protest und Hemmung des Protests. Ziel der Agitation im SPK war die Inanspruchnahme des progressiven Moments von Krankheit, des Protests und dessen kollektive Organisierung. Wie weit es den Einzelnen gelang, das progressive Moment von Krankheit für sich in Anspruch zu nehmen, hing vielfach von der ökonomischen Situation und der gesellschaftlichen Stellung der Einzelnen ab. Wer in einer Weise privilegiert war, daß er die Möglichkeit hatte, sich vermittels des kapitalistischen Konsumangebots (Tourismus, Partys etc.) abzureagieren, oder wem eine gesellschaftliche Position erlaubte, sich auf Kosten anderer gesund zu halten, für den endete die Agitation mit einer "Heilung" im durchaus bürgerlichen Sinn; er begnügte sich damit, daß die störendsten Symptome verschwunden waren, nahm ansonsten die reaktionäre Seite der Krankheit für sich in Anspruch (Hemmung des Protests als organisierte Gewaltförmigkeit gegen andere und damit auch gegen sich selbst), und schied aus "freien" Stücken aus dem SPK aus; er war ja gesund und stand damit objektiv auf der Seite des Kapitals:

"Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht, und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz. Sie ist, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, in der Verworfenheit die Empörung über diese Verworfenheit, eine Empörung, zu der sie notwendig durch den Widerspruch ihrer menschlichen Natur mit ihrer Lebenssituation, welche die offenherzige, entschiedene, umfassende Verneinung dieser Natur ist, getrieben wird."*

*K. Marx, "Die Heilige Familie", MEW 2

Gesundheit ist ein durch und durch bürgerlicher Begriff. Das Kapital legt in seiner Gesamtheit eine durchschnittliche Norm der Ausbeutbarkeit der Ware Arbeitskraft fest. Das Gesundheitswesen hat einerseits die Aufgabe, diese Norm zu erhöhen, und andererseits, die der Norm nicht mehr entsprechenden Arbeitskräfte zu selektieren und möglichst kostensparend aufzubewahren – bzw. wie im Dritten Reich offen zu liquidieren, oder wie derzeit durch Differentialeuthanasie* zu beseitigen.

Gesund sein heißt somit ausbeutbar sein.

* Differentialeuthanasie bedeutet die planvolle und systematische massenhafte Vernichtung von Leben, die eben durch ihre subtile und schwer durchschaubare ("wissenschaftliche") Auswahl bezüglich der zu Vernichtenden und der gesteuerten Geschwindigkeit dieses Destruktionsprozesses den Namen "Differentialeuthanasie" verdient. Patienten des SPK hatten Gelegenheit, die versuchte Praktizierung dieser Form der Menschenvernichtung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, insbesondere durch die Ärzte v. Baeyer, Blankenburg und Oesterreich zu erfahren.

Die Praxis des SPK hat klar gemacht, welche Gewaltpotentiale gegen die Produktion nicht-destruktiver Bedürfnisse und die Realisierung von Leben bereitstehen und zum Einsatz gebracht werden. Sie hat klar gemacht, daß die grundgesetzlich garantierten Rechte – Gleichheit, körperliche Unversehrtheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit – abstrakte Phantome sind und daß selbst schon der Versuch ihrer Inanspruchnahme als Verbrechen gebrandmarkt wird. Das Ausmaß der Konkretion, welche die grundgesetzlich garantierten Rechte annehmen, hängt nicht etwa ab vom Urteil "unabhängiger" Richter, sondern vom Grad der Gegengewalt, welche die ausgebeutete Klasse der lebenszerstörenden Gewalt des Kapitals entgegenzusetzen in der Lage ist. Deshalb ist der Ruf: "Kampf dem Abbau demokratischer Rechte" eine hohle Phrase.

Die Bourgeoisie zögert nicht, Millionen von Arbeitskräften für ihren Profit zu vernichten, wenn sie nicht durch die materielle Gewalt der Betroffenen daran gehindert wird.

Die Realisierung des Rechts auf Leben findet im Volkskrieg statt. Alle Gewalt muß vom Volk ausgehen.

Wem bei dem Wort Volkskrieg schaudert, dem muß klar werden, daß er noch keinen Begriff von der Gewalt des kapitalistischen Systems, von dem ständig stattfindenden Klassenkampf von oben hat; daß jährlich 10 000 Menschen durch "Selbst"-Mord umkommen, daß täglich 15 Menschen bei sogenannten Betriebsunfällen ihr Leben lassen müssen, daß jährlich soviel Menschen bei Verkehrsunfällen vernichtet werden, wie Offenbach Einwohner hat. "Es herrscht immer Krieg in den Städten" – Brecht.