Rechtsanwältin
Ingeborg Muhler, Dipl.-Inform.
Mannheim
 

Europäische Kommission
GD Binnenmarkt
Rue de la Loi 200
B-1049 Bruxelles
Belgien

18.06.2002 Aktenzeichen: MARKT/D3/JMV/em D(2002) 264
Antrag vom 12.01.2002 an die Europäische Kommission
betr. Klage der Europäischen Kommission gegen die Republik Österreich
Az. 2002/4116, SG(2002) A/690

Bezug: Unsere Schreiben vom 25.03.2002 und 05.05.2002
 
 

Stellungnahme zum Schreiben des Herrn Jean Marie Visee vom 13.03.2002

Herr Visee hat in seinem Schreiben vom 13.03.2002 die Sach- und Rechtslage verkannt. Die von ihm versuchsweise geltend gemachten Rechtfertigungsgründe für eine Ablehnung unseres Antrags treffen nicht zu. Die in Bezug genommenen Urteile des EuGH sind nicht einschlägig.

Nach Ansicht von Herr Visee verstoße die von der österreichischen Anwaltskammer verfügte "Auflage, die Rechtsanwaltskammer über die erstmalige Ausübung einer Tätigkeit zu informieren" nicht gegen Gemeinschaftsrecht, denn, so Herr Visee:

  1. Rechtsanwälte müßten die Standesregeln des Aufnahmemitgliedstaates einhalten.
  2. Diese Regeln seien durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt.
  3. Die Information (= vorherige Anmeldung des auswärtigen Anwalts bei der österreichischen Anwaltskammer) erscheine zur Kontrolle der Einhaltung dieser Regeln notwendig und nicht unverhältnismäßig.
  4. Es sei keine andere angemessene und weniger behindernde Maßnahme zur Kontrolle der Einhaltung vorstellbar.
Diese angeblichen Rechtfertigungsgründe treffen im Vorliegenden allesamt nicht zu. In Gegenteil: in ihrer Anwendung auf die österreichische Vorschrift erweist sich diese als unvereinbar mit den genannten europäischen Richtlinien.
 

Ad 1.

Laut Herrn Visee müssen Rechtsanwälte Standesregeln einhalten, in ihrem Herkunftsland so gut wie in dem europäischen Mitgliedstaat, in dem sie tätig sind. Nun steht aber diese Frage im hier Vorliegenden gar nicht zur Entscheidung an. Es geht nicht um Standesregeln als solche, sondern vielmehr um die konkrete Frage, wie ihre Einhaltung durch die zuständige Anwaltskammer kontrolliert wird, wie diese Kontrolle gestaltet ist und wo ihre Grenzen liegen, jenseits derer diese Kontrolle mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist. Da also nicht Standesregeln allgemein, auch nicht die österreichischen Standesregeln in toto angegriffen wurden, ist der neben der Sache liegende Punkt 1 in Herrn Visees Schreiben schon von daher nicht geeignet, die spezielle, ausschließlich von der österreichischen Standesorganisation exekutierte Zwangsvorschrift zu rechtfertigen, welche den auswärtigen Anwalt unter Strafandrohung verpflichtet, sich vor seinem ersten Tätigwerden in Österreich bei der dortigen Anwaltskammer vorab zu melden. In den anderen Mitgliedstaaten kommen die Anwaltskammern ohne diese "Vorabverständigung" aus, ohne daß sie deshalb auf die Kontrolle der Einhaltung der Standesregeln verzichten müssen. Zu der allein interessierenden Frage der Berechtigung der österreichischen Sonderregelung hat sich Herr Visee unter Punkt 1 seines Schreibens nicht geäußert.
 

Ad 2.

Standesregeln seien durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt, so Herr Visee weiter. Auch das ist nicht die Frage, über die zu entscheiden ist. Zur Entscheidung steht vielmehr, ob speziell die Zwangsmeldevorschrift der österreichischen Anwaltskammer "durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt" ist.

"Allgemeininteresse" heißt im vorliegenden Zusammenhang: die Allgemeinheit der österreichischen Rechtsuchenden und deren Interesse. Die zu vermutende Überlegung hinter dieser Zwangsmeldevorschrift ist wohl diese: österreichische Rechtsuchende sollen durch die Anmeldevorschrift vor Schaden bewahrt werden, welcher durch ausländische Anwälte angerichtet werden könnte, indem die Letzteren Verstöße gegen die anwaltlichen Standesregeln zum Nachteil ihrer österreichischen Mandanten begehen und diese Verstöße unentdeckt blieben, wenn die Anwälte der Kontrolle durch die österreichische Standesorganisation entzogen seien, weil sie sich nicht vorab bei der Anwaltskammer vor Ort gemeldet haben.

Das Interesse eines jeden, der einen Anwalt beauftragt, egal ob in Österreich oder sonstwo, ist zuerst und ganz allgemein vor allem dies, daß der Anwalt tätig wird. Dieses ganz allgemeine Interesse an einem wirksamen Rechtsschutz wird nun aber durch die österreichische Knebelungsvorschrift der anwaltlichen Vorab-Anmeldung gerade ins Gegenteil verkehrt. Diese Vorschrift richtet sich gegen das Allgemeininteresse der Rechtsuchenden und beschneidet sie in ihren Rechten. Durch die österreichische Vorschrift ist der beauftragte Anwalt nämlich daran gehindert, für seinen Mandanten schnell und wirksam das Nötige zu tun. Dies hat sich während der Tätigkeit der Unterzeichnerin gezeigt, gilt aber generell für die Tätigkeit eines jeden Anwalts, der in Österreich tätig werden will und der durch die genannte Vorschrift in seiner Tätigkeit behindert wird, zum Nachteil seines Mandanten.

Was heißt denn anwaltliche Tätigkeit?
Wer einen Anwalt beauftragt, ist in Not und sucht deshalb schnellstmögliche juristische Abhilfe dieser Notlage durch die Tätigkeit des Anwalts. Der Anwalt legt dazu beispielsweise noch am selben Tag zur Fristwahrung eine Beschwerde ein, die er dann nicht selten kurz vor 24.00 Uhr per Fax an das Gericht sendet, oder er beantragt den Erlaß einer Einstweiligen Verfügung, worüber das Gericht noch am selben Tag zu entscheiden hat, oder der Anwalt wird beauftragt, weil gerade eine Hausdurchsuchung stattfindet oder eine Festnahme, gegen die sich der Mandant sofort wehren will und den Anwalt beauftragt, sofort eine Haftbeschwerde einzulegen. Die Tätigkeit eines Anwalts ist also zu nicht geringem Teil Notfalltätigkeit, es muß sofort etwas getan werden.

Der Anlaß, dessentwegen die Unterzeichnerin in Österreich tätig wurde, ist geradezu paradigmatisch für diese Notfalltätigkeit. Die Unterzeichnende war tätig und nach Österreich zu Hilfe gerufen unter allen, auch der Anwaltskammer Wien bekannten Vorzeichen und Terminierungen größter Dringlichkeit (Gefahr für Leib und Leben), per Eilfall also.

Es ging um die Abwendung einer Sachwalterschaft (Betreuung), betrieben vom Wiener Magistrat seit Februar 1999 gegen den damals 62-jährigen Herrn Dr. A. samt Zwangsbegutachtung und drohender Heimeinweisung mit absehbar baldigem Tod. Alle von Herrn Dr. A. angesprochenen Wiener Anwälte hatten sich für unzuständig oder für nicht sachkundig erklärt, waren sonstwie verhindert oder ganz einfach untätig geblieben. Während seiner Suche nach einem Rechtsanwalt hatte Herr Dr. A., neben vielen anderen, auch die Rechtsanwaltskammer Wien angerufen mit der dringenden Bitte, ihm einen Anwalt zu benennen. Fehlanzeige. Die Anwaltskammer konnte oder wollte nicht helfen. Es gab auch über die Anwaltskammer keinen Anwalt für Herrn Dr. A.: Totalversagen der Wiener Anwaltschaft samt Kammer! Es herrschte also diesbezüglich in Österreich das Justitium (Stillstand der Rechtspflege). In seiner Not hatte sich Dr. A. deshalb an die Unterzeichnende gewandt. Die Tätigkeit der Unterzeichnenden für Herrn Dr. A. bestand zum einen in seiner gerichtlichen Vertretung in der Sachwalterschaftssache: hier konnte der ihm seitens des Wiener Magistrats zugedachte soziale Tod (durch Einrichtung einer Zwangssachwalterschaft/Betreuung) abgewendet werden, ein Tod, dem nur allzuleicht, wie bekannt, binnen Stunden auch der biologische folgen kann: Heimeinweisung, Zwangsbehandlung, Elektroschock, noch dazu fehlindiziert, auch und gerade lebensalterbedingt, lebensgefährliche Komplikationen, Tod. Laut Medical Economics vom 7.3.1988 kann die Lebenserwartung für Ältere in Pflegeheimen "nur noch in Stunden bemessen werden." Zum andern bestand die Tätigkeit der Unterzeichnenden darin, durch Intervention hiesigerseits zu erreichen, daß Herr Dr. A. den Wiener Magistrat nicht mehr als Zwangsklient aufzusuchen braucht, sein Geld per Dauerauftrag erhält und letztlich nochmal mit dem davongekommen ist, was gemeinhin heutzutage auch in seinem Fall, wie schönfärberisch und abseits aller Realität auch immer, nicht Hundeleben, sondern Leben genannt wird.

Die Unterzeichnerin wurde von Herrn Dr. A. während der Osterfeiertage 1999 beauftragt, genau gesagt: am Karfreitag 1999 und mußte in obiger Sache sofort tätig werden. Die Unterzeichnerin war aktiv und im Einsatz, die Anwaltskammer Wien dagegen nicht erreichbar, wie dies übrigens immer der Fall ist an Feiertagen, am Wochenende, während des Jahresurlaubs, frühmorgens und nach Dienstschluß, also meistens und zwar gerade dann, wenn es darauf ankäme, daß jemand schnell erreichbar ist. Wo und wie soll sich ein auswärtiger Anwalt denn melden, wenn der Adressat der Anmeldung, die Anwaltskammer, nur zu ausgewählten Zeiten zu sprechen ist? Eine mangels Präsenz gar nicht erreichbare Anwaltskammer kann keine Vorab-Anmeldung entgegennehmen.

Das heißt: die von der österreichischen Kammer geforderte Vorab-Anmeldung ist im Praktischen gar nicht durchführbar. Wäre es der österreichischen Anwaltskammer tatsächlich darum zu tun, die angeblich unabdingbare Meldungsregelung zu praktizieren, so müßte sie einen Rund-um-die-Uhr-Dienst einrichten, vergleichbar dem sog. Journaldienst der Staatsanwaltschaft und zwar an 7 Tagen in der Woche und an 365 Tagen im Jahr. Nichts dergleichen gibt es bei der Wiener Anwaltskammer. Wenn aber die Einhaltung der angeblich zwingend zu beachtenden Vorschrift, ohne die eine Kontrolle der auswärtigen Anwälte angeblich unmöglich sei, von tageszeitlichen Zufällen (nach Feierabend niemand mehr erreichbar) und von jahreszeitlichen Bequemlichkeiten (Sommerurlaub) abhängt, so ist dies weder eine allgemeingültige Vorschrift noch gar eine zwingend zu beachtende.

Die von der Anwaltskammer geforderte Reihenfolge - erst anmelden, dann tätig werden - ist in der praktischen Durchführung kein Nacheinander, sondern ein Gegeneinander. Einhaltung der Vorschrift und Ausübung der Anwaltstätigkeit schließen einander wechselseitig aus. Die Voranmeldungsvorschrift, falls befolgt, legt erst einmal die gesamte Tätigkeit des Anwalts lahm. Solange er seine Voranmeldung nicht bei den österreichischen Kollegen von der Kammer eingereicht hat, gibt es ihn nicht als Anwalt in Österreich. Machen die Kammeranwälte nun gerade Urlaub oder sind sie im Wochenende, so hat der auswärtige Anwalt, falls vor Ort, reichlich Zeit, derweil die Wiener Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, sich von der österreichischen Küche verwöhnen zu lassen, Geburtshäuser und Wirkstätten berühmter Komponisten zu besuchen und vieles andere mehr, bis er dann, Tage später, seine Vorab-Anmeldung endlich bei der Kammer loswerden kann. Aber im Allgemeininteresse der Rechtsuchenden ist das nicht, daß der Anwalt erst einmal aufs Abstellgleis geschoben wird.

Es ist also gerade umgekehrt: die Anmeldungsregelung verletzt das Allgemeininteresse der österreichischen Rechtsuchenden. Sie hindert die österreichischen Rechtsuchenden daran, einen auswärtigen Anwalt zu beauftragen, denn dieser Vorschrift zufolge kann der beauftragte Anwalt nicht in der Weise für seinen Mandanten tätig werden, wie es sachangemessen wäre. Er wird im Vergleich zu seinen österreichischen Kollegen schlechter gestellt und benachteiligt. Den Anwalt behindert die Vorschrift in seiner freien Berufsausübung bzw. in seiner Dienstleistung, deren Erbringung ihm durch die entsprechenden europäischen Vereinbarungen rechtlich zugesichert ist. Die Vorschrift ist eine ausschließlich diskriminierende Disziplinierungs- und Selektionsmaßnahme im Interesse der österreichischen Anwaltschaft zum Zweck der Ausschaltung unliebsamer ausländischer Konkurrenz (dazu mehr im Folgenden).
 

Ad 3.

Laut Herrn Visees Schreiben erscheine "die Information", also die vorherige Anmeldung des auswärtigen Anwalts bei der österreichischen Anwaltskammer, "zur Kontrolle der Einhaltung der Regeln notwendig und nicht unverhältnismäßig".

Das ist falsch. Wie vorstehend ausgeführt, ist die Voranmeldung in der Praxis gar nicht durchführbar, die Kontrolle kann allein schon deshalb weder "notwendig" sein, noch kann sie "nicht unverhältnismäßig" sein. Die Kontrolle findet ganz einfach nicht statt, weil die Vorschrift so angelegt ist, daß eine Kontrolle gar nicht stattfinden kann.

Zwischen der Pflicht zur Voranmeldung und der Einhaltung der Standesregeln bzw. deren Kontrolle durch die Anwaltskammer besteht erkennbar keinerlei logischer, geschweige denn ein sachlicher Zusammenhang. Die Tatsache allein, daß der Anwalt des Mitgliedstaats vor Aufnahme seiner Tätigkeit in Österreich der Anwaltskammer namentlich bekannt gemacht wurde, entfaltet für sich noch keine Kontrollwirkung.

Zur Ausübung einer wirksamen Kontrolle in standesrechtlicher Hinsicht müßte die österreichische Anwaltskammer von dem Anwalt des Mitgliedstaats darüberhinaus

  • die Mitteilung sämtlicher gerichtlichen Verhandlungstermine verlangen, sowie
  • die Übersendung sämtlicher Schriftsätze
  • die Übersendung einer Namensliste seiner österreichischen Mandanten
  • bzw. sämtliche Gesprächsnotizen von Mandantenbesprechungen anfordern.
  • Doch damit nicht genug: in die Verhandlungstermine müßte die Kammer einen Beobachter entsenden, die Schriftsätze müßte sie auf standeswidrige Formulierungen durchsehen und die Besprechungsnotizen müßte sie auf möglicherweise erkennbares Fehlverhalten des Anwalts bei seiner Beratungstätigkeit durchforsten. So könnte eine wirksame Kontrolle des Anwalts durchgeführt werden und Arbeitsaufwand, Kosten- und Personalgründe dürften dabei keine Rolle spielen, ginge es denn tatsächlich um Kontrolle im "Allgemeininteresse". Von allem anderen abgesehen (Datenschutz, Verschwiegenheitspflicht des Anwalts usw.) sind diese Kontrollmaßnahmen genausowenig praktikabel, wie allein schon die Voranmeldungsvorschrift an ihrer Undurchführbarkeit in der Praxis scheitert.

    Es kommt hinzu, daß auch die Bereitstellung aller Personal- und Geldmittel durch die Anwaltskammer keine wirksamere Überwachung garantieren würde als sie sowieso schon gegeben ist, und zwar ohne alles Zutun der Anwaltskammer. Jeder Anwalt ist schon überwacht und kontrolliert, sobald er in Österreich tätig wird. Und zwar immer dann, sobald er beruflichen Kontakt hat mit Gerichten, Behörden und Kollegen. Sie alle wachen über sein anwaltliches Wohlverhalten. Sie alle kennen seinen Namen, auch seine Kanzleianschrift, seine Telefonnummer, und wissen bei welchem deutschen Landgericht er zugelassen ist, sobald sie auch nur einmal einen Blick auf seinen Anwaltsbriefbogen geworfen haben, der ihnen als Richter, als Vertreter der Gegenseite oder als Behördenmitarbeiter im Verfahren vorliegt.

    Und nur hier, nämlich bei Ausübung der beruflichen Tätigkeit, in actu, könnten Gesichtspunkte des Standesrechts greifen. Nur bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit kann der Anwalt danach beurteilt werden, ob er sich an die Standesrichtlinien hält, was auch immer darunter verstanden werden mag. Dem Richter kann am Verhalten des Anwalts etwas auffallen, dem Sachbearbeiter bei der Behörde, dem gegnerischen inländischen Kollegen. Dagegen kann der Anwaltskammer rein gar nichts auffallen. Mit und ohne Vorabverständigung ist niemand von der Anwaltskammer qua Amt mit dabei im Gerichtssaal, bei der Verhandlung vor der Behörde oder sonstwo, wenn der auswärtige Anwalt in Österreich tätig ist.

    Hält dagegen beispielsweise ein Richter ein anwaltliches Verhalten für unvereinbar mit dem anwaltlichen Standesrecht, so wird er sich, unter Schilderung des Sachverhalts und unter Beifügung der anwaltlichen Bevollmächtigung und der Schriftsätze, welche im Briefkopf Name und Anschrift des Anwalts sowie das Gericht seiner Zulassung aufweisen, an die Anwaltskammer wenden. Damit ist die Anwaltskammer verständigt und hat zudem alle erforderlichen Informationen über den Anwalt, auch und gerade in puncto Standesrecht.

    Aus genau diesem Grund werden speziell Gerichten und Behörden gewisse Kontrollrechte über den Anwalt eingeräumt. Die entsprechende Gesetzesvorschrift richtet sich ausdrücklich nicht an die Anwaltskammer, sondern an Gerichte und Behörden. In  § (2) Absatz 2 des österreichischen EWR-Anwaltsgesetzes wird dem Gericht bzw. der Behörde das Recht eingeräumt, von dem bei diesen Institutionen auftretenden Rechtsanwalt den Nachweis seiner anwaltlichen Berechtigung zu fordern: "(Der Anwalt hat) dem Gericht oder der Behörde, vor der er auftritt, auf Verlangen seine Berechtigung nach  § 1 nachzuweisen. Wird dieses Verlangen gestellt, so darf er die Tätigkeit erst ausüben, wenn der Nachweis erbracht ist". Ämter, Einrichtungen und Gerichte, also all diejenigen, welche mit dem Anwalt bei dessen Berufsausübung direkt zu tun haben, haben das Recht (keinesfalls die Pflicht!), vom Anwalt den Nachweis seiner Berechtigung zu verlangen, die Anwaltstätigkeit auszuüben.

    Auch bei Verfahren mit Anwaltszwang, d.h. wenn es sich um Verfahren handelt, bei denen die Zusammenarbeit mit einem österreichischen Einvernehmensrechtsanwalt vorgeschrieben ist (dessen Vereinbarkeit mit dem Europarecht im Vorliegenden dahingestellt bleiben kann), ist
    a) das Einvernehmen nur direkt mit dem österreichischen Kollegen herzustellen (wie die Unterzeichnende dies getan hat) und
    b) das Einvernehmen nur direkt dem Gericht gegenüber nachzuweisen.

    Eine Meldung an die Anwaltskammer, sei es seitens des einheimischen, sei es seitens des auswärtigen Anwalts ist dabei nirgends im Gesetz vorgeschrieben. Wozu auch? Das vor dem ersten Tätigwerden geforderte Anschreiben an die Anwaltskammer ist eine leere Formalität, deren Erfüllung oft unmöglich, die aber durchgängig so untauglich wie ihre Nichterfüllung unbeachtlich ist.

    Es ist hierbei noch auf Folgendes hinzuweisen: 1999 hat die Anwaltskammer Wien gegen die Unterzeichnerin ein standesgerichtliches Verfahren angestrengt und zwar deshalb, weil sie dieser Vorab-Anmeldepflicht angeblich nicht nachgekommen sei. Träfe die Behauptung von Herrn Visee zu, nämlich daß die vorherige Anmeldung des auswärtigen Anwalts bei der österreichischen Anwaltskammer unabdingbar "notwendig" sei, weil andernfalls eine Kontrolle in standesrechtlicher Hinsicht unmöglich, so hätte es niemals ein solches Verfahren der Kammer gegen die Unterzeichnerin geben können. Denn dieser Argumentation zufolge könne es eine wirksame Kontrolle und ein Eingreifen seitens der Kammer nur bei vorheriger Meldung geben. Nun hat aber die Wiener Kammer trotz der fehlenden Meldung der Unterzeichnerin (wie die Wiener Kammer tatsachenwidrig unterstellt) gegen sie ein standesgerichtliches Verfahren eingeleitet und zwar genau mit der Begründung, die Anmeldung habe gefehlt. Initiator dieses Verfahrens war aber nicht die Kammer. Vielmehr kam es zu diesem Verfahren, weil durch die erfolgreiche Tätigkeit der Unterzeichnerin bei der Vertretung der Interessen von Herrn Dr. A. der Verfahrensgegner sich angegriffen fühlte. Es handelt sich hierbei um den Wiener Magistrat, Streitgegner der Unterzeichnerin im Verfahren und selbst unter Anzeige und Dienstaufsichtsbeschwerde (namentlich Scheidl, Kaltcu, Dr. Pröbsting, letzterer inzwischen amtsenthoben). Der Magistrat hatte sich in Gestalt einer Frau Mag. geb. Kindermann in denunziatorischer Absicht an die Wiener Anwaltskammer gewandt (Telefongespräch der Frau Mag. geb. Kindermann mit der Rechtsanwaltskammer Wien, s. dortiger Aktenvermerk). Bei diesem Denunziationsakt (gekränkte Leberwurst und "Rache muß sein"?) seitens des Wiener Magistrats handelte es sich um eine Retourkutsche (Fiaker?) und um ein Ablenkungsmanöver nach der Devise "Haltet den Dieb!".

    Einer Befassung mit dem Inhalt dieser Denunziation bedarf es an dieser Stelle nicht, zumal die Strafsache gegen Frau Mag. geb. Kindermann längst ihre Bearbeitung bei der zuständigen Wiener Staatsanwaltschaft gefunden und auch der Inhalt der Denunziation keinen Eingang in das standesrechtliche Verfahren gefunden hat, weil das selbst der Anwaltskammer zu blöd war. Der Denunziation entnahm die Anwaltskammer nur dies: es gab eine in Österreich tätige Anwältin, die sich nicht zuvor bei der Kammer gemeldet hatte.

    Dieser Vorgang beweist: ein Nichtmitglied der Wiener Anwaltskammer konnte ganz offensichtlich die Kontrolle über eine Anwältin ausüben, die - der Anwaltskammer zufolge - nur dann möglich sei, wenn der Anwalt sich zuvor bei der Kammer gemeldet habe, denn nur so könne die Kammer und nur sie ganz allein die anwaltliche Kontrolle ausüben. Gerade die Tatsache, daß die Anwaltskammer Wien aufgrund der Denunziation eines Dritten (Magistrat Wien bzw. Frau Mag. geb. Kindermann) ein Verfahren gegen die Unterzeichnerin eingeleitet hat, straft alle Behauptungen über die angeblich unumgängliche Notwendigkeit der Meldepflicht Lügen. Die Anwaltskammer selbst hat durch das Verfahren gegen die Unterzeichnerin die Entbehrlichkeit, genauer gesagt: die Untauglichkeit der Meldepflicht einmal mehr in aller Deutlichkeit der europäischen Öffentlichkeit vor Augen geführt. In dem standesrechtlichen Verfahren wird der Unterzeichnerin der (im übrigen tatsachenwidrige) Vorwurf gemacht, sie habe die Meldepflicht nicht beachtet und sich somit der anwaltlichen Kontrolle entzogen - und zugleich ist dieses Verfahren selbst der schlagende Beweis für die vorhandende Kontrolle über Anwälte und für die Untauglichkeit der geforderten Meldepflicht.

    Zusammenfassend zu diesem Punkt:
    Herrn Visees Behauptung, die vorherige Anmeldung des auswärtigen Anwalts bei der österreichischen Anwaltskammer erscheine "notwendig" und "nicht unverhältnismäßig", ist nicht haltbar. Ganz im Gegenteil ist der Zwang zur schriftlichen Anmeldung in jeder Hinsicht dysfunktional. Seine Nichtbeachtung kann denn auch keinerlei standesrechtliche Wirksamkeit entfalten. Unabhängig von der Meldepflicht steht der Anwalt aus einem europäischen Mitgliedstaat in Österreich unter Kontrolle. Gerade das standesrechtliche Verfahren gegen die Unterzeichnerin, gestützt auf den Vorwurf der (angeblich) unterlassenen Anmeldung, hat bewiesen, daß die Meldevorschrift zur anwaltlichen Kontrolle völlig außer Verhältnis steht.
     

    Ad 4.

    Folgt man Herrn Visee, so sei "keine andere angemessene und weniger behindernde Maßnahme zur Kontrolle der Einhaltung vorstellbar" als die von der österreichischen Anwaltskammer geforderte Meldepflicht vorab. Das ist falsch. Wenn dem so wäre, so müßten alle europäischen Anwaltsordnungen diese Vorschrift enthalten, in jedem Mitgliedstaat müßte sich der Anwalt vor seinem erstmaligen Tätigwerden bei der dortigen Anwaltskammer melden, nach dem Vorbild Österreichs. Aber das Gegenteil ist der Fall und Österreich ist die Ausnahme. Es ist nämlich vielmehr so, daß die österreichische Meldevorschrift dem Vergleich mit den anderen europäischen Anwaltsordnungen nicht standhält. Zum Vergleich: will die Unterzeichnerin beispielsweise in Frankreich vor Gericht auftreten, so tut sie das und schon ist sie unmittelbar angemeldet, zugelassen und beim dortigen Gericht eingeführt. So ist das europarechtlich geregelt und nicht erst seit kurzem, sondern schon seit den Römischen Verträgen aus den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auch in Deutschland gibt es diese Vorschrift nicht, auch nicht in Italien, nicht in ...

    Alle Anwaltsordnungen in Europa verfolgen das gleiche Schutzziel, aber nirgendwo sonst gibt es einen Zwang zur vorherigen Meldung bei der Anwaltskammer, bevor der Anwalt tätig werden darf. Folglich ist die österreichische Regelung weder angemessen, noch trifft es zu, daß eine weniger behindernde Maßnahme zur Kontrolle nicht vorstellbar sei. Denn, wie gesagt, in allen anderen europäischen Ländern kann man sich das durchaus anders vorstellen und praktiziert es auch anders, seit Jahren und Jahrzehnten schon. Die österreichische Regelung mit ihrem Zwangscharakter ist also weder sachlich zwingend noch die einzig mögliche Ausgestaltung der Anwaltskontrolle.

    Die österreichische Sonderregelung hat innerhalb der europäischen Gemeinschaft die Wirkung von unerlaubten Schutzzöllen im ausschließlich egoistischen Partikularinteresse der österreichischen Anwaltschaft. Alle anderen Anwälte aus Europa werden durch die genannte Vorschrift benachteiligt und können ihre Tätigkeit in Österreich erst aufnehmen, nachdem sie sich bei der Anwaltskammer gemeldet haben. Die österreichischen Anwälte ihrerseits sehen sich bei ihrer Anwaltstätigkeit in den anderen europäischen Mitgliedstaaten keinen vergleichbaren Restriktionen ausgesetzt, haben also insofern einen nicht unerheblichen Wettbewerbsvorteil.

    Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Aktenzeichen C-309/99) vom 19.02.2002 sind Anwaltskammern, also auch die österreichische, als Unternehmensvereinigungen im Sinne des  § 85 Abs. 1 EG-Vertrag anzusehen. Auf diesem ökonomischen Hintergrund ist die österreichische Knebelungsvorschrift für auswärtige Anwälte einem mittelalterlichen Zunftgesetz vergleichbar, das eifersüchtig Vorteile nur für die Mitglieder der eigenen Gilde konserviert und verteidigt, wie überholt und gemeinschaftsfeindlich auch immer. Die österreichische Anwaltschaft will sich damit unliebsame europäische Konkurrenz vom Leib halten. Hierbei ist noch einmal daran zu erinnern, daß die Unterzeichnerin nur deshalb tätig wurde, weil in Österreich selbst kein einziger Anwalt für Herrn Dr. A. in seiner Notlage zu finden war. Die Unterzeichnerin befand sich zu keiner Zeit in einem Konkurrenzverhältnis zur österreichischen Anwaltschaft. Diese gab es gar nicht.

    Abschließend ist noch einzugehen auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofs, auf die Herr Visee in seinem Schreiben Bezug genommen hat, obwohl diese im Vorliegenden nicht einschlägig sind. Allerdings nennen beide Entscheidungen (Gebhard 55/94 und Reisebüro 3/95) vier zwingende Voraussetzungen, welche erfüllt sein müssen, wenn ein Mitgliedstaat die Tätigkeit von Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats im Aufnahmestaat an bestimmte Bedingungen knüpfen will. Auch gemessen an diesen Voraussetzungen verstößt die österreichische Regelung gegen europäisches Gemeinschaftsrecht.

    In diesen Gerichtsentscheidungen heißt es:

    "Diese Bedingungen, die insbesondere in der Verpflichtung bestehen
    können, ... sich bestimmten Standesregeln ... zu unterwerfen, müssen jedoch einige zwingende Voraussetzungen erfüllen, wenn sie die Ausübung einer durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheit, wie der Niederlassungsfreiheit, behindern oder weniger attraktiv machen können. Dabei geht es um vier Voraussetzungen:
    1. keine diskriminierende Anwendung
    2. Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses
    3. Eignung, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten
    4. Beschränkung auf das, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist."
    Die österreichische Zwangsvorschrift der Vorab-Anmeldung verstößt gegen die genannten Bedingungen
    1. Die Vorschrift diskriminiert nicht-österreichische Anwälte und beschränkt ihre Tätigkeit in unzulässiger Weise (s. oben unter Ad 2).
    2. Es besteht kein Allgemeininteresse am Bestehen dieser Vorschrift, wie bereits dargelegt (s. oben Ad 2). Im Gegenteil: die Vorschrift verletzt das Allgemeininteresse der Rechtsuchenden in eklatanter Weise.
    3. Die Vorschrift ist völlig ungeeignet, eine Kontrolle über Anwälte aus Mitgliedstaaten zu gewährleisten (s. oben unter Ad 3).
    4. Die durchweg dysfunktionale und untaugliche Vorschrift erreicht ihr Ziel nicht (s. oben unter Ad 2, Ad 3, Ad 4). Die angegriffene Vorschrift beschränkt sich auch nicht "auf das, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist". Sie ist zur Erreichung des Ziels außer Verhältnis.
    Zusammenfassend:

    Bei Anwendung der von Herrn Visee genannten Kriterien auf die österreichische Zwangsmeldevorschrift ergibt sich in allen Punkten deren Nichtvereinbarkeit mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht. Man kommt zum selben Ergebnis, wenn die österreichische Kammervorschrift gemessen wird an den Voraussetzungen, welche in den genannten EuGH-Urteilen verbindlich festgelegt sind.

    Die österreichische Meldevorschrift ist somit nach allen gültigen europarechtlichen Regelungen und Vorschriften unvereinbar mit europäischem Recht.
    Es ist deshalb zu entscheiden, wie beantragt.

    Hinweis: Sollte Herr Visee - entgegen dem hier Vorgebrachten - weiterhin bei seiner ablehnenden Haltung bleiben, so möge er seine Ablehnungsgründe mitteilen. Der Unterzeichnerin ist in diesem Fall noch einmal Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor die Kommission zu einer Entscheidung zusammentritt. Diese Vorgehensweise ist zum einen deshalb geboten, um verbotene Überraschungsentscheidungen seitens der Kommission zum Nachteil der Unterzeichnerin zu vermeiden und zum anderen deshalb, weil wir schon in der Bearbeitung unseres Antrags vom 12.01.2002 die Erfahrung machen mußten, daß wesentliche Inhalte und Kernpunkte gar nicht aufgefaßt, geschweige denn berücksichtigt wurden. Dies ist möglicherweise der Arbeitsüberlastung der einzelnen Kommissionsmitarbeiter geschuldet, denen zum gründlichen Studium unseres Antrags einfach keine Zeit blieb. Die Unterzeichnerin erklärt sich deshalb bereit, die Europäische Kommission bzw. den jeweiligen Sachbearbeiter nötigenfalls auch noch ein weiteres Mal in schriftlicher Ausarbeitung auf die entscheidungserheblichen Punkte hinzuweisen, was einem sachgerechten procedere nur dienlich sein kann, zumal im Hinblick auf dadurch vermeidbare Beschwerdeverfahren.
     

    Muhler
    Rechtsanwältin